5.

Ich stand reglos auf den Planken der Seebrücke und sah mit zusammengekniffenen Augen den Rauchfahnen hinterher, die aus den Schornsteinen der Marcbioness of Lome stiegen, während sie sich entfernte. Die Decks waren immer noch voller Menschen, deren Ziel Arrochar am Ende des Lochs oder einer der Zwischenhalte war. Ein schöner Anblick, diese doppelte Säule aus schwärzlich-gräulich-weißlichem Qualm - die anfangs schräg aufstieg und dann hinter dem Schiff herzog, so dass sie horizontal unter den Wolken lag.

Die Rauchfahnen bewegten sich langsam nach Osten in Richtung Firth und Glasgow. Ich wusste, dass sie sich auf den vierzig Kilometern von hier bis zur Stadt aufgrund der atmosphärischen Diffusion auflösen würden. Davon sah ich nur die erste Phase, als sich die Rauchfahnen am Ende bogen und aussahen wie Fragezeichen am Himmel.

Ein großer dunkler Seevogel - eine Große Raubmöwe? - flog durch die wirbelnden Formen, zu deren Auflösung ihr Flügelschlag weitere dispersive Energie beitrug. Bald würden die Objekte der Aufmerksamkeit dieses dunklen Wandlers - ich konnte ihn nun kreischen hören, ein hartes Ha-ha-ha - zu etwas anderem werden, chemisch wie physikalisch verändert durch die mächtigeren Kräfte der umgebenden Luft.

Als ich die Seebrücke hinaufging, kam hinter der kleinen Steinhütte am Ende etwas Seltsames hervor. Ein Anachronismus ... eine Pferdekutsche ... Das eingeschirrte Tier stampfte und dampfte und hatte eine kleine Schaumblase vor dem Maul. Ich starrte die beiden kleinen Speichenräder des Einspänners an. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich den Anblick verarbeitet hatte. Die Zeit in Blairmore ging aus Londoner Sicht deutlich nach - und zwar mindestens ein halbes Jahrhundert!

Ein raubeiniger, zigeunerhafter Mann Mitte vierzig trat hinter dem Pferd hervor und vervollständigte das viktorianische Bild. Er hob die Peitsche zum Gruß und deutete hinten auf sein Gefährt. Er trug eine Tweedmütze und kaute auf einer Pfeife - sie stach aus dem unrasierten, windgepeitschten Gesicht hervor wie ein Ast aus einem gekappten Baum. Für mich sah er wie ein nicht allzu wohlhabender Bauer mit einem Hauch von Viehtreiber und Wilderer aus.

»Zum Ryman-Haus nach Kilmun, bitte«, sagte ich, während er meinen schweren Lederkoffer in einem Netz hinten an der Kutsche verstaute, in dem schon mehrere Pakete und Kisten lagen. Ich stieg auf, er nahm neben mir Platz, und mit einem Peitschenklaps setzten sich die Räder in Bewegung und wir waren auf dem Weg.

Sein Name war Mackellar - einen Vornamen nannte er nicht -, und er war Bauer, wie ich angenommen hatte. »Ich wart immer auf die Fähre, wenn sie reinkommt«, erklärte er. »Ich nehm die Post und die Passagiere mit. Die Post mach ich so, Passagiere kosten vier Pence.«

Er warf mir einen harten Blick von der Seite zu. »Haben Sie die?«

Ich nickte und hielt mich an dem schwarz lackierten Holz der Bank fest, während wir am Ufer entlangsausten, an dem sich die Wellen brachen.

»Sie sind wohl der Wetterfrosch, was?«, fragte er.

»Woher wissen Sie das?«

»Die haben die ganze Ausrüstung für Sie hergebracht. Auf mein Land. Das Haus ist auch meins. Beschlagnahmt. Natürlich keine Pacht, aber so ist das mit der Regierung, Krieg oder kein Krieg.« Er versetzte dem Pferd einen Klaps mit der Peitsche, und mit einem Ruck beschleunigte sich unsere Fahrt.

Ich rutschte hin und her. »Das tut mir leid. Es handelt sich aber um wichtige Arbeit, das versichere ich Ihnen.« Ich wollte ihm möglichst einfach erklären, worum es ging. »Wir machen Wettervorhersagen und warnen die Soldaten, wenn Regen ansteht.«

Er sah mich wieder von der Seite an und tippte dem Pferd auf die Flanke. »Harn die Soldaten denn keine Regenmäntel?«

Ich grinste und widmete meine Aufmerksamkeit der Landschaft, durch die wir fuhren. Als wir das Dörfchen Blairmore verließen, erfreute mich der Anblick des Strandes am Loch auf der einen und der hohen, baumbestandenen Hügel auf der anderen Seite. Vereinzelte Cirruswolken, Haarlocken, umkränzten fichtenbedeckte Gipfel. Stellenweise war Forstarbeit zu erkennen, Lücken, an denen Bäume herausgeschlagen worden waren.

»Zum ersten Mal in der Gegend?«, fragte Mackellar.

»Ja, ich bin in Afrika aufgewachsen«, erwiderte ich.

»Afrika? Ziemlich weit weg, was? Na, das hier ist ganz was anderes, das werden Sie bald merken. Sonne und Wolken kommen sich hier dauernd gegenseitig in die Quere.«

Wir umrundeten die Landspitze bei Strone - die das Ende von Loch Long von der Öffnung des Holy Loch trennte - und fuhren nun auf einer langen, halb überwucherten Landstraße weiter.

»Das hier nennen die Leute den Mückenweg«, sagte Mackellar, der anscheinend willkürlich zwischen Schottisch und Englisch wechselte. »Ist grad nichts los, aber wenn's nich mehr pfeift, kommen die raus. Auswärtige mögen die am liebsten.«

Es gab eine Pause, in der ich versuchte, mir den letzten Satz zu übersetzen. Währenddessen erfüllte das Klappern der Hufe den Weg zwischen den Hecken. Als wir durch ein Tor fuhren, bellte ein Hund, und das Pferd scheute und zerrte am Geschirr.

»Keine Angst«, sagte Mackellar leise. »Er mag nur keine Hunde. Mücken auch nicht. Riesenschwärme von denen haben wir hier manchmal.«

»So etwas habe ich in Afrika mal gesehen«, erwiderte ich schließlich und erinnerte mich an meine Kindheit in Nyasaland. »Es gibt dort einen großen See, auf dem sich riesige Wolken von ihnen sammeln.«

Mackellar lachte in sich hinein.

»Mit Afrika kenn ich mich nich aus, aber ich kann Ihnen sagen, wie das hier is mit den Mücken. Sie werden schon sehen, dass ich recht hab. Wenn Sie die Biester in Ruhe lassen, kümmern die sich auch nicht um Sie, das schwör ich. Die gehen dahin, wo sich in der Luft was bewegt, also bleiben Sie schön still, auch wenn die Viecher um Sie herumtanzen. Für jeden Schlag, den Sie denen geben, kriegen Sie zehn Stiche zurück. Außerdem mögen die feuchtes Wetter, also gehen Sie lieber nach draußen, wenn die Sonne rauskommt. Und über Salzwasser fliegen die auch nicht.«

Er versetzte dem Pferd einen kräftigen Peitschenhieb, und hinter dem Hang kam Stück für Stück das Holy Loch in Sicht. Ich sah die Köpfe von zwei Seehunden aus dem Wasser stechen. Sie sahen aus wie Soldatenhelme.

»Warum heißt es Holy Loch?«, fragte ich.

Mackellar zuckte die Schultern. »Da gibt's viele Geschichten.« Er führte es nicht weiter aus.

Im Loch fielen sofort die drei grauen Schiffe der Navy auf, die alle eine Anzahl von U-Booten um sich geschart hatten. Vor ihnen erstreckte sich das Dorf Kilmun.

Wir sollten damals nicht über die Namen der Schiffe sprechen - Poster mit entsprechenden Warnungen hingen überall -, aber ich erfuhr bald, dass es sich bei den drei Mutterschiffen um die HMS Förth, Titania und Alrhoda handelte. Von hier verteilte sich der U-Boot-Schwarm auf seiner tödlichen und gefährlichen Mission in den Atlantik, von der manche Boote nie wiederkamen.

»Sie ham 'ne Verabredung mit dem Propheten?«

»Sie meinen Professor Ryman?«

»Für uns ist er der Prophet.«

»Oh.«

»Er berät uns«, sagte mein nussbrauner Chauffeur. »Wann wir aussäen sollen. Wann der Mond eine Kuh kalben lässt. Wann die Lachswanderung anfängt. Wie man selber Unkrautvernichter macht und womit man sich die Mücken vom Hals hält. So was eben.«

»Aber so etwas wissen Leute vom Land doch bestimmt schon selbst?«

»Ammenmärchen«, erwiderte er abschätzig und stellte das Vorurteil auf den Kopf, das ich mir von ihm gebildet hatte. »Volksbräuche und so was. Meine Frau glaubt natürlich an den ganzen Kram. Wenn die Milch überkocht, heißt das, dass einer krank wird, glaubt sie, Schnecken und Tabak bringen Unglück und vor allem: Wenn die Vögel vor 'ner Bö herjagen, ist 'n richtig steifer Ziegenschinder im Anmarsch, der dich glatt von den Socken pustet.«

Nachdem ich ihn gefragt hatte, was genau ein »Ziegenschinder« war, konnte ich entziffern, dass er wohl gesagt hatte, »wenn die Vögel kurz vor einer Windbö umherflattern, kommt bald ein Sturm, der einen aus dem Gleichgewicht bringen kann«. Schottisch sprach er immer etwas schneller als Englisch.

»Mir sind aber die Vorhersagen vom Propheten lieber«, setzte er fort. »Der ist immer mit 'nem Gewehr unterwegs. Das sehen Sie aber bald selber.«

Der Himmel hatte sich zugezogen. Das Holy Loch sah jetzt kalt und grau aus, die Oberfläche mit einem Muster aus weißen Katzenpfoten bedeckt, jede Wellenlinie auf Physik und Chemie basierend, selbst die Wolken, die sich im Wasser spiegelten.

»Da wohnt der Prophet«, sagte Mackellar und deutete mit der Peitsche auf ein solides, quaderförmiges, magnolienfarben gestrichenes Haus, das ein Stück von der Straße entfernt hinter einer Feldsteinmauer zwischen den Gärten stand. »Mein Hof ist gleich dahinter.«

Auf einem Hügel oberhalb von Rymans Haus (das wohl georgianisch war und zwei Erkerfenster hatte) sah ich eine weitere Mauer und dahinter ein Bauernhaus mit Nebengebäuden. Dort standen auch Ställe und eine Scheune voller Heu sowie einige Gewächshäuser. In dem Feld zwischen dem Bauernhof und Rymans Haus stand ein viel älteres Steingebäude neben einem Trog, aus dem zwei Hochlandrinder tranken. Weiter oben war ein Buchenwäldchen. Mackellar erzählte mir, dass durch die Bäume ein Bach mit einer kleinen Brücke floss.

Weiter oben lag der Forst: eine düstere Reihe Fichten nach der anderen, nur an Stellen unterbrochen, wo Holz geschlagen worden war, und dort, wo die lange Stahlrutsche verlief. Sie sah aus wie von einem Kinderspielplatz. »Die Waldarbeiter schicken damit die Stämme runter«, erklärte Mackellar, als er meinem Blick folgte.

Wir hatten am schmiedeeisernen Tor vor Rymans Haus angehalten, das mit einem Sonnenmotiv und den Tierkreiszeichen geschmückt war. Einen Moment lang überlegte ich, ob ich mich in eine Gegend verirrt hatte, in der andere Gesetze galten als die Newtons - ein Ort der Zeichen und Wunder, ein Tal der Omen. Dann sah ich aber eine Sonnenuhr im Garten und ein großes Teleskop auf einem Sockel, und irgendwie kehrte mit diesen Instrumenten die Vernunft ins Bild zurück.

»Das Gebäude da neben dem Baum, die alte Steinkate, da haben die Ihre Ausrüstung untergebracht«, sagte Mackellar und zeigte den Hang hinauf. »Es steht ein Bett drinnen, aber ich kann nicht unbedingt sagen, dass es bequem aussieht. Ich bring Sie hin.«

»Nein, nein danke«, erwiderte ich. »Ich gehe mich gleich mal dem Professor vorstellen, wo ich schon mal hier bin. Aber wenn Sie meinen Koffer mitnehmen könnten, wäre ich Ihnen sehr dankbar.«

»Kann ich machen«, erwiderte Mackellar barsch.

Ich stieg von der Kutsche.

»Aber der Prophet«, sagte er mit emphatisch erhobener Peitsche, »der mag es nicht, wenn man bei ihm an die Tür hämmert.« Er hielt inne. »Sie müssen sich etwas geschickter anstellen. Dann mag er sie auch eher«, fügte er hinzu.

Der Bauer ließ auf diese Aussage eine Geste der anderen Hand folgen, die keiner Erklärung bedurfte. Ich fischte den Fahrpreis aus der Tasche und bezahlte. Die Kutsche fuhr weiter in Richtung meiner neuen Wohnung, und ich ging auf die Vordertür von Rymans Haus zu.

Ich wollte gerade klopfen, als ich mich an Mackellars Warnung erinnerte. Ich drückte gegen die schwere schwarze Tür. Sie war verschlossen.

Hinter mir, von irgendwo auf der anderen Seite des Lochs oder weiter draußen auf dem Firth hörte ich das Nebelhorn eines Schiffs. Es hörte sich an wie das Stöhnen eines sterbenden Mammuts oder Mastodons, als spielte sich irgendein Drama aus der Frühzeit der Evolution draußen hinter den archipelagischen Wassern von Cowal ab. Ich blieb stehen und wartete, wobei ich mich langsam wieder unwohl fühlte. Dies schien tatsächlich ein seltsamer, obskurer Ort für den Triumph der logischen Transparenz der Wissenschaft, so weit entfernt von den mechanistischen Projektionen der Ryman-Zahl, wie man es sich nur vorstellen konnte.

 

Die Geometrie der Wolken
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